Analyse der Wehrfunktionen von Neuscharfeneck
Beurteilung der Möglichkeiten des Verteidigers von Neuscharfeneck (15. Jh.)
Der Ausbau Neuscharfenecks durch KF Friedrich I. (dem Siegreichen) v. d. Pfalz zur Artillerie tragenden Burg ab 1469 geschah zu einer Zeit, wo die Blide noch nicht ganz von der Bildfläche verschwunden war, aber immer mehr von der Kanone verdrängt wurde. Der letzte Einsatz einer Blide auf pfälzischem Boden erfolgte vermutlich 1504 gegen Alt-Wolfstein. Die erste Pfälzer Burg, die von Feuerwaffen gebrochen wurde, war 1353 die Burg Hohenfels am Donnersberg.
Wie oben dargelegt, betrug die Kampfentfernung für Blide und für mauerbrechende Artillerie Ende des 15.Jahrhunderts etwa 300 Meter, so dass ein Angreifer seine Geschütze dicht vor der Burg – in Sichtweite des Verteidigers – aufstellen musste.
Ein wirksames zeitgenössisches Verteidigungskonzept für die Burg musste demnach umfassen:
- ein wirksames Feuer gegen gegnerische Artilleriestellungen (= offensives Abwehrkonzept) und
- eine wirksame Abwehr gegen angreifendes Fußvolk (= defensives Abwehrkonzept) und
- eine ausreichende Widerstandsfähigkeit gegen feindlichen Beschuss (= defensives Abwehrkonzept)
I. Feuer auf die Geschützstellungen eines Angreifers vor der Schildmauer
Um aus der Burg auf einen Feind am Höhenkamm östlich der Burg zu wirken, benötigte es Geschützstellungen, die eine Höhenausrichtung der Geschütze gegen die Feindseite erlaubten. Als bautechnische Umsetzung wurden Geschützstellungen
- auf der Dachplattform für lange, weitreichende Rohre (Falkonet / Achtelschlange, 1-Pfünder)
- im Baukörper der Schildmauer für kürzere schwere Rohre (Viertelkartaunen, 12-Pfünder)
eingerichtet.
Für den Distanzkampf aus den Geschützkammern in der Schildmauer bedurfte es eines ausreichenden Höhenrichtbereiches, d.h. dass die Kanone tief gebettet werden musste und auf einer kleinen vierrädrigen Wandlafette (“Kasemattlafette”) lag.
Da alle Kanonentypen “Vorderlader” waren und zum Rohrwischen und Munitionieren zurückgezogen werden mussten, waren kurzrohrige Ausführungen der Kanonen erforderlich, was mit Einbußen in der Treffsicherheit gegenüber der Langrohrvariante verbunden war.
II. Abwehr eines Frontalangriffs
Wie bereits in der Geländebeurteilung angesprochen, erlaubte das steil abfallende Gelände im Norden und Süden der in Spornlage erbauten Burg ein Heranführen von Belagerungsgeschützen nur aus Osten entlang des Höhenkamms. Von dort aus konnten durch Beschießung mit schweren Kalibern eine Breschierung im Mauerwerk versucht werden, durch die dann Fußvolk eindringen sollte.
Um einen Angriff durch oder über die mächtige Schildmauer zu verhindern, musste der Halsgraben ausreichend tief und breit sein. Breit, um das Heranrücken an die toten Räume unmittelbar an der Schildmauer zu erschweren. Tief, um die zum Überwinden des Hindernisses erforderliche Zeit zu verlängern, während der ein vernichtendes Abwehrfeuer aus Hakenbüchsen und Kanonen (auf kurze Distanz mit Hagelschuss) auf das schutzlose Fußvolk gerichtet wurde.
Der Angreifer musste also vielmehr versuchen, den Halsgraben zu umgehen, um an den verdickten Enden der Schildmauer vorbei zu den weniger stark befestigten Teilen im Westen (links) vorzudringen. Zur Abwehr dieses Umgehungsversuches mussten auf der Schildmauer zahlreiche Pulverwaffen eingesetzt werden, die flankierend vor den Halsgraben und entlang des südlichen Bering und der nördlichen Zwingermauer wirken konnten.
Die Hauptlast des “Nahkampfes” musste also mit Pulverhandwaffen geleistet werden. In Waffenverzeichnissen der Burg wurden alleine im Bereich der Schildmauer in Summe 44 Hakenbüchsen verzeichnet.
Um die Annäherungswege für die Umgehung bereits auf größere Entfernung unter Feuer nehmen zu können, mussten auf der Dachplattform Stellungen für weitreichende Rohre (Falkonet bzw. Achtelschlange, 1-Pfünder) eingeplant werden.
III. Widerstandsfähigkeit gegen feindlichen Beschuss
Wie eingangs (Geländebeurteilung) dargelegt, war ein Beschuss durch Blide oder Kanone nur aus Osten möglich. Aufgrund der limitierten Reichweite dieser Waffen von 200-300 Metern, war der westliche Teil der Burg mit dem neu angelegten Haupteingang vor der Waffenwirkung zeitgenössischer Belagerungsartillerie im ausgehenden 15. Jahrhundert noch völlig sicher.
Die Widerstandsfähigkeit gegen Feindfeuer war also an der Ostseite zu erhöhen, wo bislang der stauferzeitlichn Schildmauer die (passive) Mantelfunktion gegen Steinschleudern zugedacht war. Der Ausbau der Schildmauer zum Waffenträger für Kanonen ab 1469 war mit einer deutlichen Erhöhung und Verstärkung der Mauern verbunden und zum Zeitpunkt des Ausbaus zur Kanonenburg “Stand der Technik”.
Die Erfahrungen aus der Belagerung der südhessischen Burg Tannenberg umsetzend, bei der erst die Explosion des Pulvers im Bergfried die Besatzung zur Übergabe zwang, mussten beschusssichere Pulverkammern im Innern der Schildmauer vorgesehen werden.